Es funktioniert täglich zuverlässig in Millionen von Haushalten in unserer fortschrittlichen Schweiz:
Kaffeemaschine: ON – Kaffee machen – OFF
Computer: ON – Mails empfangen – OFF
So muss es sein. Rasch und problemlos.
Warum funktioniert das nicht auch mit meinem Morbus Bechterew?
Diagnose = ON – Heilung = OFF
Die Diagnose steht. Ich werde es in den Griff kriegen.
Ich werde wieder ungebremst aktiv sein, schmerzfrei schlafen, Fahrrad fahren, den Frühlingsputz meistern, Berge erklimmen…
Ich werde aus dem beengenden Korsett schlüpfen und dynamisch, uneingeschränkt und vital LEBEN.
Das Wundermittel heisst TNF-Alpha-Hemmer. Ich war bereit, mir regelmässig diese «Droge» mittels Pen oder Spritze in den Oberschenkel zu rammen. Nur die hohen Rechnungen machten mich krank, was ich aber dank Krankenkasse erfolgreich verdrängte.
Die positive Wirkung blieb nicht aus. Die Nächte waren beinahe schmerzfrei, mein Allgemeinzustand stabiler und meine Konzentrationsfähigkeit merklich besser. Ich wagte es, Teilzeit zu arbeiten und einen meiner Träume zu verwirklichen: Ich begann einen zweijährigen Lehrgang als Drehbuchautorin.
Mitten im Studium traten seltsame Symptome auf: Hartnäckige Kopfschmerzen, massive Nackensteife, bis zu 40 nächtliche Muskelkrämpfe. Die Leberwerte im Blut stiegen stark an. Schliesslich stellte ich fest, dass sich die Beschwerden jeweils kurz vor der nächsten Injektion besserten.
Der Traum vom «OFF» war ausgeträumt. Ich hatte eine allergische Reaktion auf TNF-Alpha-Hemmer entwickelt. Ein erneuter Versuch nach einer längeren Pause scheiterte.
Die Schmerzen und die Erschöpfung wurden wieder stärker, die Konzentration schlechter. C’est la vie – Shit happens…
«Ich muss die richtigen Regler drehen, um die Harmonie wieder herzustellen…»
Regler 1: Medikamente
Mit stets optimiertem Medikamentencocktail versuchte ich meine errungene Lebensqualität und den Aktivitätslevel zu halten. Ich hatte erst gerade erlebt, dass «es mich noch gibt»!
Regler 2: Ablenkung
Eine vermeintlich clevere Strategie funktionierte anfänglich hervorragend: War ich non-stop aktiv, konnte ich meine Schmerzen zusammen mit Medikamenten unterdrücken und verdrängen. Ich liebte es, unsere Kinobesucher glücklich zu machen. Unschwer zu erraten, dass regelmässiger Sport, Zeit mit der Familie und Erholung auf Sparflamme gesetzt wurden…
Eine erosive Gastritis (Magenschleimhautentzündung, bei der die Schleimhaut oberflächlich an mehreren Stellen defekt ist) signalisierte mir, dass mein Organismus sich nicht alles gefallen lässt. Diverse Magenschoner brachten wenig Besserung und dafür weitere Nebenwirkungen.
Regler 3: Entschleunigung
Ich entschied mich, die aktuelle Situation zu bejahen und mein Leben wieder etwas zu entschleunigen. Ich gehorchte dem Kommando meines Mannes und reduzierte schweren Herzens meine Einsätze im Kinobetrieb. Vorübergehend verlor ich ein Stück Identität und litt einmal mehr darunter, finanziell zur anspruchsvollen Familiensituation nichts beitragen zu können.
Regler 4: Ernährung, Sport
Nun war ich neu gefordert, mich mit gesunder Ernährung und Nahrungsergänzung zu befassen und Erkenntnisse umzusetzen. Die fadenscheinigen Gründe, mein Training zu vernachlässigen, überzeugten nicht einmal mehr mich selbst.
Die Massnahmen halfen tatsächlich. Ich konnte häufiger stressfrei in den Tag starten und abends das «System sanft herunterfahren». Entsprechend brauchte ich weniger Medikamente und mein Magen dankte es mir.
So sehr ich es mir auch wünsche, den OFF-Schalter gibt es nicht. Die «ewige Ruhe» muss noch warten. Den Begriff «chronisch» vermeide ich dennoch in meinem Sprachgebrauch. Er klingt mir zu definitiv, zu festgefahren, zu passiv, zu hoffnungslos.
In jeder gute Phase meldet sich die leise Hoffnung: «Es ist vorbei, es war nur ein böser Traum, es kommt nie wieder…» Früher oder später folgen schlechtere Zeiten. Und mir wird bewusst: Ich kann nicht alle Misstöne ausblenden.
Bevor ich dann endgültig im Selbstmitleid ertrinke, aktiviere ich bewusst Kopf und Herz: «Nimm dich nicht so wichtig! Jeder Mensch lebt mit Einschränkungen.» Und wenn ich mich dann etwas umschaue und anderen zuhöre, frage ich mich, worüber ich mich gerade beklagen wollte… Ich spreche immerhin von guten und schlechten Zeiten und nicht vom definitiven Untergang.
Ich werde weiter an den Reglern drehen, bis hin zum Finetuning. Aufmerksamer, sanfter, bewusster, je besser ich die Disharmonien erkenne. – Aber ab und zu geniesse ich auch die «volle Dröhnung».
Es geht mir gut – wahnsinnig gut – im Moment…
12. Oktober 2016 um 10:15
Liebe Magdalena – Du bringst mich zum Schmunzeln! Was für ein Geschenk, dass du es immer wieder schaffst, deinem herausfordernden Alltag mit einer gesunden Portion Humor ( … ist, wenn man trotzdem lacht) entgegenzutreten. Ehrlich und unverblümt, dein Blogeintrag. Ich schätze den erlaubten Blick "hinter die Kulissen" sehr. Bin gern mit dir zusammen unterwegs im Austausch und gegenseitigen Ermutigen querbeet durch Wunderbares, Gutes, Schwieriges und Katastrophenalarm. Das echte Leben eben – eher eine Bergwanderung mit zittrigen Kletterpartien (tolle Ausblicke nicht vergessen!) als ein glamouröser Gang über den weichen roten Teppich mit Rampenlicht und viel Applaus. Wir gehören zusammen, schaffen viel gemeinsam – und freuen uns auf das Beste, das noch kommt. härzgruessundextradrucker Eva
10. November 2016 um 18:05
Hallo Magdalena,
Die Schalter, die Du Dir wünschst, sind nun mal in unserer Erinnerungswelt, in unserem Neuronalnetz installiert.
Wie Du selber feststellst, lässt sich der Wahrnehmungs- und Handlungsmotor in unserem Gehirn nicht einfach auf ON oder OFF stellen. Und in Denkprozessen zu analysieren, ist nicht selten stressbeladen.
Meditation ist bei mir der Schlüssel zur inneren Entschleunigung, zu Ruhe- und Erholungsoasen. Meditieren mit Schlüsselsätzen, mit Lebensweisheiten, mit Zitaten, die mir begegnet sind. Für den grossen Philosophen Immanuel Kant war es der Psalm 23.
Wünsche Dir weiterhin frohes Nachdenken und GOTTES FRIEDEN.
Grüessli us dr Neumatt
Walter
18. Februar 2017 um 21:59
Sie schreiben Ihre Situation sehr offen aus Frau Meier. Akzeptieren ist zur Zeit, vor allem die Müdigkeit eher schwer. Zukunfstängste gehören bei mir sehr oft in die Woche. Leider. Manchmal gelingt es mir locker und humorvoll meine Situation anzusehen. Vieles ist eher ein Überwindungskampf. Ich finde, Sie schreiben irgendwie so, wie ich mich fühle. Ich habe Ihre Blogs, alle mehrmals gelesen.
Zum Thema Selbstmitleid. Das würde ich gerne öfter über Bord werfen. Ich denke, das einiges auch mit der momentanen emotionalen Lage zu tun hat. Mal besser mal weniger gut.
Ich lese gerne Ihre Blogs. Sie haben auch einen schönen Schreibstil.
Wenn es Ihnen gut tut, dann schreiben Sie doch bald wieder.
Merci. Mike