Haben Sie sich auch schon vorgestellt, wie es wäre, in den Körper einer anderen Person zu schlüpfen? Oder dass Sie jemanden, der Sie als verweichlicht bezeichnet, am liebsten einen Tag lang in Ihrem Körper hätten leben lassen?

Dieser Schuss könnte natürlich auch hinten raus gehen. Womöglich würde das Gegenüber bei Schmerzen, die Sie als sehr unangenehm empfinden, nur süffisant lächeln.

Da sind wir beim Dilemma: Äussert sich ein Bechterew bei vielen Betroffenen in mühsamsten Einschränkungen und bleibenden Schäden im Körper, ist er für andere primär eine mehr oder weniger schmerzhafte Angelegenheit, ohne im Alltag zu grossen Einschränkungen zu führen. Viele können am Samstag vor Schmerzen kaum aufstehen und unternehmen am Sonntag eine Velotour.

Kommunikative Herausforderung

Darum ist ein Bechterew immer auch eine kommunikative Herausforderung – vor allem, weil sich die Krankheit oft schon in einer Lebensphase bemerkbar macht, in der (gelinde gesagt) Erfolg, Schönheit und Gesundheit wichtiger sind als später.

Ich erinnere mich jedenfalls an manche Episode, in der ich hintenrum vernahm: «Die finden im Fall, du jammerst zu viel. Erzähl doch etwas weniger über deine Bräschten.» Das war zwischen 20 und 30, als ich die meisten Bechterew-Schübe hatte und noch keine hoch wirksamen Biologika existierten. Und dabei hatte ich wohl auf die oftmals rhetorische Frage «Wie geht’s denn so?» einfach eine allzu ehrliche Antwort gegeben: «Es geht, letzte Woche musste mich der Notarzt fitspritzen, heute ziept es nur noch ein wenig in der Schulter. Das ist gut!»

 In jüngeren Jahren war es für Andi Jacomet - hier an einem Fest im Jahr 1994 - oft schwierig, mit seinem Umfeld über die Krankheit zu sprechen.

In jüngeren Jahren war es für Andi Jacomet – hier an einem Fest im Jahr 1994 – oft schwierig, mit seinem Umfeld über die Krankheit zu sprechen.

Too much information? Tja, das sage ich aus der Distanz von über 20 Jahren heute auch relativ locker daher. Der gesunde Andi von 1995 hätte den Bechterew-Andi von 1995 wohl auch für eine kleine Nervensäge gehalten. Damals waren aber die Einschränkungen so einschneidend und die Krankheit so neu, dass sich die Beschäftigung mit ihr zwangsläufig in Konversationen niederschlagen musste. Es verging kein Tag, ohne dass irgend etwas passierte, das mit der Krankheit zu tun hatte: Verpasste Arbeitsstunden wegen Arztterminen. Durchfall wegen Medikamenten. Nachbarn zu Hilfe klopfen, um aufzustehen. Vergessene Tabletten in die Ferien nachschicken lassen. Während Regenbogenhautentzündungen kaum am Bildschirm arbeiten können. Bei jedem Schritt Ausweichbewegungen vermeiden. Der Arbeitskollegin das Hinken erklären. Und so weiter.

 Es kam auch vor, dass sich Andi Jacomet die Medikamente in die Ferien nachschicken lassen musste. Hier posiert er mit einem Cowboy auf einer USA-Reise im Jahr 1993. 

Es kam auch vor, dass sich Andi Jacomet die Medikamente in die Ferien nachschicken lassen musste. Hier posiert er mit einem Cowboy auf einer USA-Reise im Jahr 1993. 

Es wäre schwierig gewesen, diesen Teil des Lebens einfach totzuschweigen. Ich akzeptierte zwar, dass das jetzt halt einfach so war aber ich musste drüber reden, um es besser zu ertragen. Macht einen das zum Jammeri? Damals hätte ich manchen gewünscht, eine Woche in meinem Körper zu leben. Leute, die Krankheiten oder Schmerzen still hinunterschluckten, waren mir suspekt.

Individueller Bemitleidungsgrad

Zwischen Überempfindlichen mit erhöhtem Mitteilungsbedürfnis und still Leidenden liegt ein weites Feld. Eine ebenso weite Ebene erstreckt sich auf der anderen Seite zwischen den Superempathischen, die immer die richtigen Worte finden, und jenen, die Kranke oder Behinderte etwa so ungelenk behandeln wie der überzeugte Junggeselle das schreiende Baby, das er in die Arme gelegt bekommt.

Natürlich ist auch der Bemitleidungsgrad, den Betroffene als angemessen empfinden, sehr individuell. Ich wage zu behaupten, dass die meisten von uns Bechtis die Krankheit am liebsten ausblenden und auch nicht ständig hören wollen, ob es einem gerade gut geht oder wann der letzte Schub war. Dass der Umgang mit Bechterewlerinnen und Bechterewlern bisweilen speziell sein kann, ist nichts als verständlich angesichts des sehr wechselhaften Verlaufs mit schnellen Änderungen, die teils sogar langjährige Rheumatiker verwirren.

Was aber stellt das Hirn der Betroffenen mit einer chronischen Krankheit an? Und wie lässt sich Schmerzempfinden messen und vergleichen? Es würde mich immens interessieren, wie eine bisher komplett gesunde Person sich in meinem Körper fühlte. Würde sie sofort zu jammern beginnen, um bei diesem schrecklichen Wort zu bleiben, und den Körper umgehend wieder verlassen wollen? Würde sie eher sagen: «Komm, stell dich nicht so an»?

Grundpegel ausblenden

Ich hatte wohl Glück: Komplett schmerzfreie Tage gab es seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr; mein Bewusstsein lernte in dieser Zeit recht gut, einen gewissen Grund-Schmerzpegel auszublenden. Dieses konstante Ziepen da und dort nehme ich zwar wahr ärgere mich bisweilen auch noch, wenn für einige Wochen irgendwo ein dezidierterer Schmerzpunkt auftaucht.

Mitte Vierzig bin ich aber so hart im Nehmen, wie es sich Teile meines Umfelds Anfang Zwanzig gewünscht hätten, und erwähne den Bechterew kaum noch im Alltag. Daran schuld ist aber nicht primär die Zensurschere im Kopf, um nicht wieder als Jammeri gebrandmarkt zu werden. Sondern ein Nierenstein! Nach einigen Nierenkoliken ist jeder andere Schmerz bestenfalls Nasenwasser. Ausser dem einzig vergleichbaren Schmerztyp natürlich, den ich als Mann niemals kennen werde. Bei der ersten Kolik lächelte die Pflegerin und bemerkte gegenüber dem nach Morphium schreienden Autor süffisant: «Sehen Sie es positiv. Jetzt gehören Sie zu den Männern, die wissen, wie sich eine Geburt anfühlt!»