Es ist noch still  – nicht einmal mein Mann schnarcht. Ich kann ihm keine Schuld für mein frühes Erwachen zuschieben. Unser Hund liegt entspannt in seiner Ecke und wittert keine Gefahr.

In der Brustwirbelsäule zieht und brennt es, mein linkes Hinterteil meldet nachdrücklich Unbehagen.

Ich habe mich gedreht, gewendet – einmal links, einmal rechts, Füsse raus, Füsse rein, Rückenlage – wäre ich ein Spanferkel am Spiess, ich hätte die perfekte Kruste.

Kein Hahn kräht danach, ob der Tag nun wirklich schon beginnen soll – ich fühle mich zerknittert, durch den Fleischwolf getrieben, geteert und gefedert – alles andere als erholt.

Ich versuche mich trotz Schmerzen zu entspannen… Plötzlich bin ich auf dem Fest einer Freundin – sie heiratet! Ihr Mann schüttet sich Kaffee über seinen Anzug, der zu meiner Überraschung problemlos abperlt – ich renne mit letzter Kraft über eine riesige Wiese – atemlos. Ich rette mich in ein uraltes, enges WC-Häuschen – plötzlich fährt es mit mir davon – und ich bin in einem unheimlich dunklen Güterwagen der SBB gefangen…

Völlig verspannt schlage ich die Augen wieder auf und kapituliere. Ich ergebe mich dem Morgen-Grauen.

 

Morgenstund…

…hat für mich keineswegs Gold im Mund – vielmehr Blei in den Knochen. Unfreiwillig stehe ich möglichst leise auf und verlasse das Schlafzimmer. Bacio – unser Hund – hebt nicht einmal den Kopf. Es ist für ihn normal, dass ich zu Unzeiten herumgeistere.

Mein Hirn meldet entsetzt die Herausforderungen des Tages. Mich überfällt die allmorgendliche Panik. Es ist mir schleierhaft, wie ich den Tag überstehen und die Pendenzen bewältigen soll. Ein Stossgebet steigt zum Himmel.

In Trance schlurfe ich stocksteif in die Küche, vorbei an den Zimmern unserer Kinder – sie können problemlos bis 11 Uhr morgens ausschlafen und sich zufrieden räkeln. Was für ein Privileg!

Nicht, dass ich bis 11 Uhr schlafen wollte – Gott bewahre! Tatsächlich habe ich inzwischen gelernt, die frühen Morgenstunden zu schätzen. Ich liebe das Morgengrauen, wenn der Himmel sich lichtet, wenn die ersten Strahlen über die Bergkette blinzeln und dann die Sonne in voller Pracht in den Himmel steigt. Manchmal gelingt mir das Staunen – manchmal nicht.

 

Aufgeweckte Strategien

Meine Devise morgens lautet: Nicht zu viel nachdenken und Diskussionen mit mir selbst vermeiden!

Oft bleibt abends in der Küche noch Geschirr stehen oder Wäsche wartet auf Erledigung. Im «Morgen-Grauen» nehme ich mir diese Routinearbeiten vor – zugegeben wenig dynamisch, aber auch eine Schnecke erreicht ihr Ziel…

Beim Tischdecken gehe ich hirnlos unzählige Male zwischen Esszimmer und Küche hin und her. Ich bewege mich – also bin ich.

Ich vermeide Tätigkeiten, die hohe Konzentration erfordern. Bis ich alle Knochen gesammelt und die Morgensteifigkeit überwunden habe, läuft mein Betriebssystem auf «Autopilot».

Umarmen mich morgens mein Mann oder eines meiner Kinder, tut mir das gut, aber mein Körper fleht «Nicht drücken!»

Eine warme Dusche soll Wunder wirken. Dem stimme ich zu. Nur bleibt bei mir oft die Wohltat aus. Mein Duscherlebnis entartet häufig in ein unfreiwilliges Wechselbad zwischen eiskalt und zu heiss. Ich habe mir geschworen, mir für die neue Wohnung einen Thermostatmischer zu beschaffen.

Spätestens wenn mich mein Hund ungeduldig stupst und immer wieder Richtung Türe rennt, ist Bewegung unvermeidbar. Je nach Wetter mehr oder weniger begeistert geht’s hinaus an die frische Luft, gemeinsam dem See entlang oder über den Schlosshügel. Hier ein Gruss und dort ein kurzes Gespräch.

Fast unmerklich scheint der neue Tag langsam an Sinn zu gewinnen…

 

Der Morgen beginnt mit dem Abend

Ist es mir möglich, mein «System herunterzufahren», mir abends vielleicht sogar ein Bad zu gönnen oder den Tag einfach stressfrei ausklingen zu lassen, gelingt der Start in den kommenden Tag tatsächlich manchmal leichter.

Am Abend schaue ich auf den Tag zurück:

Manchmal überrascht, dankbar und ganz zufrieden mit dem Erreichten.

Manchmal frustriert, weil ich es nicht geschafft habe, mich selbst zu führen.

Manchmal wütend, weil ich mehr leisten möchte als ich kann.

Und obwohl das nächste «Morgen-Grauen» naht, freue ich mich dann doch auf’s Bett, geniesse Entspannung und Schlaf – jedem Morgengrauen folgt ein Sonnenaufgang – egal ob wir die Sonne sehen oder nicht.