Diclofenac mit und ohne Misoprostol, Naproxen, Ibuprofen, Paracetamol, Acetylsalicylsäure, Corticosteroide, Augentropfen, Cox-2-Hemmer, Osteoporosemittel, Methotrexat, Mefenaminsäure, aber auch Metamizol oder Tramadol – zum Glück bin ich nicht suchtgefährdet! Die Basisnahrung eines Rheumatikers erinnert bisweilen an die Karriere eines Drogensüchtigen.
Meine Initalzündung war die erste starke Schmerztablette des Lebens auf einer Wanderung in den Blue Ridge Mountains, die manche noch von John Denver her kennen. Ich war Anfang 20 wusste noch nicht, dass ich einen Bechterew habe – diese diffusen, mal kommenden, mal gehenden Schmerzen im ISG (Iliosakralgelenk) wurden aber an diesem Tag so stark, dass ich den Notfallknopf drückte. Ich wollte an diesem Tag unbedingt die Country Roads verlassen und einen Berg besteigen. So schluckte ich also jene verbotene Pille, von der mein Hausarzt mir sagte: «Das ist für Notfälle. Nimm die nur, wenn es wirklich nötig ist.»
Die Ladung Chemie war mir damals mehr als unheimlich. Aber die Wirkung war unglaublich: Nach Tagen des Hinkens, schlechten Schlafes und der Ausweichbewegungen waren die Schmerzen wie durch Zauberhand einfach weg. Fast wie High-Sein. Eine ganz neue Erfahrung auf dieser Tour im amerikanischen Appalachengebirge. Auf meinem ersten grossen Trip erlebte ich quasi den ersten Trip!
Mai 1993. Die Büchse der Pandora war geöffnet.
Nach den ersten richtig starken Schmerzschüben und der Diagnose ein Jahr danach folgte zunächst eine eher unangenehme Episode. Diverse Präparate hatten Durchfall zur Folge – Horrorszenarien spielten sich vor meinem geistigen Auge ab: den Rest des Lebens halbwegs schmerzfrei, aber mit Dünnpfiff verbringen? Ojemine.
Sondermüll und «Gschpüriges»
Irgendwann war klar, dass ich Diclofenac am besten vertrug. Mit täglich 150mg aus der weltbekannten gelb-weissen Packung, einem Naproxen und bisweilen ein wenig Tramadol war das Leben als 20- bis 30-Jähriger meistens relativ erträglich. Abgesehen von den wenigen nächtlichen Episoden, als der Notfalldienst mit Cortison-Injektionen neben die Wirbelsäule meine Bewegungsfähigkeit wiederherstellen musste. Mit Schmunzeln denke ich heute an die Reaktionen meiner damaligen Freundinnen zurück, die nach einem Blick in den Spiegelschrank unisono fanden: «Du weisst schon, dass man dich dereinst als Sondermüll entsorgen muss?»
Selbstredend habe ich in jener Zeit auch die ganze anthroposophische, homöopathische, kräuterliche und sonstwie gschpürige Schiene versucht, bis hin zur Eigenurintherapie. Ergebnis: Wem das hilft, soll das ruhig tun. Bei mir half einzig und alleine Chemie, und zwar am besten die neueste, die Anfang dieses Jahrtausends endlich verfügbar wurde: Der TNF-Alpha-Hemmer war für mich mit 30 Lenzen so etwas wie eine Wiedergeburt, der mir jene Lebensqualität zurück brachte, die mir in den 1990ern so sehr fehlte.
Heute bin ich dank der Infusionen alle 10 Wochen und ein wenig Substituierung mit NSAR (Nichtsteroidale Antitheumatika bzw. Entzündungshemmer ohne Cortison wie Medikamente mit Dicolfenac oder Ibuprofen) so weit, wenn sich dann doch wieder mal ein Gelenk oder Sehnenansatz meldet, dass man mir meinen Bechterew kaum ansieht. Dass da und dort mühsame neue Schmerzherde in Schulter, der Wirbelsäule und den Händen kommen und gehen, daran habe ich mich fast gewöhnt.
Wandelndes Arzneimittelkompendium
Seit dem ersten Flash vor fast einem Vierteljahrhundert konsumiere ich nun also jährlich Substanzen im Wert eines Mittelklassewagens. Dass ich das ganz legal tun kann und den Solidaritätsgedanken des Krankenkassensystems seit meinen frühen Zwanzigern ausreize, löst Dankbarkeit aus. Das wäre nicht überall möglich (den «klassischen Tausender» – Franchise und Selbstbehalt – darf unsereiner aber natürlich auch Jahr für Jahr abdrücken, ohne dass wir etwas dafür können).
Anlässlich von sieben Knieoperationen und zwei Nierenstein-Episoden kamen inzwischen noch nette Mitteli wie Morphium und verschiedene Vorstufen davon auf meine Chemie-Konsumliste. Aus Angst vor der nächsten Kolik trage ich stets diverse Spritzen mit mir herum – der Süchtige, der mich am Bahnhof um eine Zigi bittet, würde wohl frohlocken, wenn ich ihm antwortete: «Sorry, Nichtraucher. Aber wie wär’s mit einer Ampulle Pethidin?»
Kollegen, die erst zum Medikamentenschrank greifen, wenn sie sich schier den Finger abgeschnitten haben, und offenbar lieber vor sich hin leiden, bewundere ich einerseits. Andererseits haben mir die Segnungen der Pharmazie zig mal aus mühsamen Situationen geholfen, und so spiele ich gerne den Abgebrühten, wenn jemand bei starken Schmerzen – wenn’s hochkommt – eine mickrige 500mg-Tablette Paracetamol nimmt. «Viermal 1000mg, ja nicht mehr, und schön über den Tag verteilt», teile ich ihnen als wandelndes Arzneimittelkompendium mit. (Alter Pro-Tipp: Die fetten Eingrämmer gibt’s übrigens ennet der Grenze rezeptfrei und viel günstiger als hierzulande.)
Das Medikamentenkistli stets «auf Mann» und das Ausbleiben von Nebenwirkungen verleitet manchmal auch bei nicht besonders akuten Schmerzen zum schnellen Griff hinein: Kopfweh kurz vor dem Kundentermin? Eine Tablette, weg ist es. Die Schachtel daheim lassen, um weniger in Versuch(t)ung zu kommen, ist keine Option: Wenn es richtig losgeht, brauche ich den Krempel.
Kontaktaufnahme zwecklos
Doch so abgehärtet ich nach der lebenslangen Einnahme rezeptpflichtiger Schmerzmittel bin, so oft sage ich mir: «Nur noch heute, morgen nehme ich dann keine mehr, es ist langfristig nicht gut für dich.» Und wie beim Junkie löst sich der Vorsatz alsbald in Luft auf. Immerhin: Die pillenfreien Wochen haben sich seit dem TNF-Alpha-Hemmer vervielfacht. Und der Konsum beschränkt sich stets auf die Linderung von Schmerzen; Schlafmittel und Ähnliches habe ich nie genommen.
Ich bin mir bewusst, dass mein Konsum die Risiken für Schlaganfälle, Herzinfärkte und andere unangenehme Randerscheinungen des Lebens erhöht. Trotzdem greife ich immer wieder zu – «ich hab’s doch bisher so gut ertragen». Fatalismus ist meine einzige Antwort darauf: So ist das halt, die Natur hat mir diesen Topf mitgegeben – und ich lebe lieber zehn Jahre kürzer, dafür schmerz- und einschränkungsfrei.
Und nach alledem kann ich ja verraten, dass das Hauptziel dieses Textes ist, mehr Ruhe vor unerwünschten Anrufen zu haben. Ich hoffe, dass Krankenversicherer hier rege mitlesen – besonders jene, die Telefonwerbung betreiben oder tolerieren. Hört her, werte Makler und Callcenter: Dieser Text ist der ultimative Beweis, dass ich für euch ganz und gar uninteressant bin. Ich koste nur, ich bringe nichts. Jegliche Kontaktaufnahme ist zwecklos.
Schreiben Sie einen Kommentar