Ich werde bald eine fünftägige Bergtour im Monte-Rosa-Massiv zwischen dem Wallis, dem Piemont und dem Aostatal beginnen. Die Tour umfasst einige der wildesten Gletscher Europas, den höchsten Berg der Schweiz, die Dufourspitze, und die Zwillingsberge Castor und Pollux, die ich schon immer erklimmen wollte, weil mein Sternzeichen Zwillinge ist. Das ganze Projekt umfasst mehr als ein Dutzend Gipfel von über 4000 Metern Höhe. Ich bin noch nie auf einen dieser Berge geklettert. Ich bin selber nicht ganz sicher, ob ich wohl verrückt geworden bin. Aber wen kümmert es, was andere Leute denken! Ich bin überzeugt, dass man sich bei dieser Art von Projekt hohe Ziele stecken sollte – ganz wörtlich! Wenn ich nicht alle 15 Gipfel schaffe, dann sicherlich einige davon.
Aber nun eins nach dem anderen. Schliesslich habe ich diese Tour schon eine ganze Weile geplant, und das grosse Fragezeichen, das über dem Projekt hängt, ist, ob meine Krankheit mich davon abhalten wird, die Art des Trainings zu absolvieren, die erforderlich ist, um sich auf ein solches physisch herausforderndes Unternehmen vorzubereiten.
Von Gratwanderungen und Gespenstern im Kopf
Mit Hilfe einer neuen medizinischen Behandlung hatte sich meine Gesundheit weit über alle Erwartungen hinaus verbessert. Allerdings fühlte ich, dass dieses Medikamentenregime nicht die ganze Lösung war, denn ich hatte immer noch Schmerzen in meinem Rücken und manchmal auch in anderen Gelenken, was mir zeigte, dass der Morbus Bechterew noch nicht ganz gestoppt war. Als ich den Sport wieder aufnahm, erkannte ich: Je mehr ich meinen Körper trainierte, desto weniger Schmerzen hatte ich. Also habe ich beschlossen, wieder zu klettern. Ich wünschte mir so sehr, wieder ohne Schmerzen zu leben. Ich hatte von Patienten gehört, bei denen das Medikament nach einer Weile aufhörte zu wirken. Das hat mich erschreckt. Vielleicht wäre die langfristige Perspektive besser, wenn ich versuchte, jede Entzündung in meinen Gelenken zu minimieren, indem ich so viel Sport wie möglich mache.
Gleichzeitig fühlte ich, dass ich so beschäftigt war, gesund zu sein, dass die Krankheit in meinem Leben ziemlich bestimmend wurde. Ich finde es immer noch schwierig, das Gleichgewicht zwischen «Ignorieren der Diagnose» und «Genuss des Lebens» zu finden und es als Teil von mir zu respektieren und ihm Raum zu geben. Nachdem ich so lange unter wiederkehrenden Rückenschmerzen und anderen gesundheitlichen Problemen gelitten habe, dauert es eine Weile, sich daran zu gewöhnen, dass ich nicht neurotisch bin und das Ganze ein Gespenst in meinem Kopf ist. Ich hatte mich entschlossen, eine grosse Bergtour zu versuchen, aber ich wollte meinen Körper nicht so stark beanspruchen, dass ich ein Aufflackern des Bechterew verursachen könnte. Ich wollte die Tour vorsichtig und mit grossem Respekt für meinen Körper planen.
Langsame Akklimatisierung
Im späten Bergfrühling hatte die Kletter- und Wandersaison begonnen, und ich ging die meisten Wochenenden mit Freunden oder mit einer Gruppe des Schweizer Alpenclubs (SAC) in die Höhe. Das hat mir geholfen, eine grundlegende Fitness zu entwickeln. Ich sah schöne Landschaften, Vögel und Tiere. Mit Freunden aus dem SAC-Kletterclub wanderten wir im Bächlital im Grimsel-Gebiet im Kanton Bern oder im Grand Muveran an der Grenze zwischen der Waadt und dem Wallis.
Zusätzlich empfahl mir meine Physiotherapeutin einige spezielle Trainings in der Turnhalle und ich schrieb mich für einen 3-Monats-Kurs in einem lokalen Fitness-Center ein. Neben dem Outdoortraining hebe ich jetzt also Gewichte und mache lustige Übungen auf sehr seltsam aussehenden Maschinen. Aber es hat mich sehr überrascht, welchen Unterschied diese eher komischen Übungen für meine Fitness machen.
Die grössten Herausforderungen meines Projektes sind für mich die körperliche Kraft und Ausdauer. Ich weiss, dass ich jeden der geplanten Tourentage einzeln schaffen kann, aber kann ich fünf solcher Tage am Stück schaffen? Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Akklimatisation, d.h. die Fähigkeit, in einer Höhe von rund 4000 Metern über Meer für fünf Tage zu bleiben. Schliesslich und vielleicht am wichtigsten ist aber etwas anderes: Ich brauche den Mut und die Disziplin, um mich gut vorzubereiten. Ich muss an mich selbst glauben und an den Wert dessen, was ich versuche zu tun. Der Morbus Bechterew hat mich gelehrt, das Leben von Tag zu Tag zu nehmen und dass der Weg das Ziel ist. Diese Haltung hilft mir immer wieder, denn ich weiss, dass auch der Weg zur geplanten Bergtour eigentlich schon das Ziel ist. Wenn ich jeden Tag etwas für mein Projekt mache, stehen die Chancen gut, mein Ziel zu erreichen. Jede und jeder, die oder der für eine Sportveranstaltung trainiert, ist sich dessen wohl bewusst. Bei mir hat der Bechterew dazu beigetragen, dass ich diese wichtige Lektion gelernt habe. In den folgenden Wochen habe ich einen Plan zusammengestellt, um die erforderliche Kraft, Ausdauer und Akklimatisierung zu entwickeln.
Im Bergschritt voran
Im Frühsommer machte ich Ausflüge, um meine Ausdauer und mein Vertrauen zu verbessern. Ich schlief in höheren Hütten, was den Akklimatisierungsprozess in Gang brachte. An einem heissen Tag wanderte ich zur Dossenhütte, die über der Stadt Meiringen liegt. Die berühmten Reichenbacher Fälle, in die Sherlock Holmes verschwunden ist, liegen ganz in der Nähe. Beim Aufstieg war mein Gesicht so rosa wie das T-Shirt, das ich an diesem Tag trug, und ich musste wirklich kämpfen, um mit der Gruppe mitzuhalten.
Nach der Wanderung hatte ich das Gefühl, dass die Idee, 15 4000er zu erklimmen, einfach nur dumm war und ich mich völlig getäuscht hatte. Doch schon am nächsten Tag ging es wieder viel besser und ich schaffte den Gipfel wie auch den Abstieg ins Tal mit Leichtigkeit. Trotzdem waren die Zweifel immer noch da. Es scheint so schwierig, ein klares Gefühl zu bekommen, ob mein Projekt realistisch ist oder nicht.
Gute Nerven von Vorteil
Eine weitere Tour führte mich auf einer sogenannten via ferrata auf einen Berg namens Daubenhorn. Eine via ferrata ist ein Klettersteig mit einem am Felsen befestigten Stahlseil. Mit einem Klettersteig-Kit können sich Kletterer an das Kabel anschliessen und so das Sturz- und Fallrisiko eindämmen. Das Daubenhorn ist ein fast 1000 Meter hoher Aufstieg über dem bei Bechterew-Betroffenen wohl bekannten Walliser Thermalort Leukerbad. Man klettert vorbei an einer grossen Schweizer Flagge, die auf den Felsen gemalt ist und sogar aus dem Tal zu sehen ist. Ich war so glücklich, dass ich sogar anfing, die Schweizer Nationalhymne zu singen! Ich war nicht sicher, was sich die anderen Leute in diesem Moment gedacht haben, aber dort oben hören einen zum Glück nicht viele Leute. Der Weg braucht wirklich gute Nerven und Höhenangst wäre hier ein echter Nachteil.
Es gibt Passagen über Schluchten oder durch Höhlen, und auf einem Teil der Route hängt man mehr oder weniger frei über dem steilen Abgrund. Dort, wo der Felsen glatt ist und es keine Möglichkeit gibt, um sich festzuhalten, sind Leitern an die Wand geschraubt. Wir erreichten den Gipfel nach rund sechseinhalb Stunden.
Einmal oben angekommen, vergisst man schnell, dass der Gipfel nur die Hälfte der Strecke ist. Man muss ja auch wieder hinuntersteigen. Zum Glück verkürzte die Seilbahn am Gemmi-Pass die lange Wanderung zurück nach Leukerbad. Ich war sehr müde. Die Herausforderung des Aufstiegs war vergleichbar mit den schwierigsten Abschnitten meiner geplanten Tour, aber ich fragte mich immer noch, ob ich fünf solcher Touren-Tage hintereinander bewältigen könnte. Meine nächsten Touren werden weitere Testläufe sein, und mir hoffentlich helfen, die Frage zu beantworten, ob mein Projekt realistisch ist oder ob ich meine persönlichen Leistungsgrenzen damit überschreite. Doch ich versuche, mich nicht unter Druck zu setzen und erinnere mich immer wieder an den für mich wichtigen Satz: «Der Weg ist das Ziel».
Die geplante Bergtour im Detail
1. Tag: Roccia Nera 4057m
2. Tag: Pollux 4092m – Castor 4223m
3. Tag: Lyskamm – Überschreitung Westgipfel 4479m – Ostgipfel 4527m
4. Tag: Punta Giordani 4046m – Piramide Vincent 4215m – Balmenhorn 4167m – Corno Nero 4321m – Ludwigshöhe 4341m – Parrotspitze 4432m – Signalkuppe 4554m
5. Tag: Zumsteinspitze 4563 m – Dufourspitze 4634m – Nordend 4609m
2. August 2017 um 16:16
Sich grosse Ziele setzen kann viele Hindernisse überwinden. Das Motto «der Weg ist das Ziel» bedeutet aber auch, dass ein Vorhaben abgebrochen oder das Ziel geändert werden kann – ohne dass man sich dabei als Verlierer fühlt. Ich wünsche dir eine schöne Tour und die Gelassenheit das richtige Ziel anzustreben.
6. August 2017 um 12:25
Liebe Judith
wie gehts Dir in deinen geliebten Bergen?
Hut ab und congratulations zu Deinem Mut und Deiner Lebensfreude!
An die Grenzen gehen und darüber hinaus…trotz (oder gerade wegen) allem –
ich wünsche dir herzlich alles Gute bei allen Auf- und Abstiegen.
Ich freue mich auf´s Singen am 18. August, take care
liebi Grüess
Renata